Encyclopädie des philologischen Studiums der neueren Sprachen
Bernhard Schmitz
Greifswald: Koch’s Verlagsbuchhandlung, 1860
p. 102/103

... über den reichen König von Avegnie musste ich zunächst meine Unwissenheit beklagen, da Ideler [Julius Ludwig, auteur du Geschichte der Altfranzösischen National-literatur von den ersten Anfängen bis auf Franz I, Berlin, Nauck 1842]  keine Anmerkung dazu für nöthig befunden hatte. Ich stellte sogleich alle möglichen Nachforschungen an, nicht nur in allerlei mir zugänglichen Werken, sondern auch bei verschiedenen Männern, die in altfranzösischen Lektüre oder in Geschichte und Geographie bewandert waren. Vergebens. Mein Fragezeichen wanderte im J. 1850 mit mir von Berlin nach Greifswald. Alsbald machte hier der so vielseitig (auch in altfranz. Duellen) belesene Prof. Barthold alle möglichen Recherchen; von Zeit zu Zeit kam immer wieder die Rede darauf; er starb im J. 1858 darüber hin. Später übernahm es besonders Herr Prof. Karl Hopf, der Sache auf die Spur zu kommen. Immer mehr schien man mit Sicherheit annehmen zu können, dass es sich entweder um irgend ein fabelhaftes Land handeln müsse oder dass der Name corrumpirt sei. Aber es bot sich auch nicht einmal eine leidliche bestimmte Vermuthung. So blieb die Existenz des Königreichs Avegnie für uns eine offene Frage bis zum J. 1860, wo mich am ersten Ostertage Prof. Hopf durch Mittheilung folgender Notizen freudig überraschte:

"Papst Innocenz III. Schreibt wegen Hülfe für Jerusalem an den König von Armenien, sowie: Illustri Regi Avogniae, dass er gegen die Saracenen zu Felde ziehen möge. Epist. Lib. XIV, Ep. 68 (bei Baluze II, 536; Raynaldi z. Jahr 1211 n. 26). Es liest dabei Cod. Reg.: Avoguiae, Cod. Colbertin: Anoguiae, Cod. Vatican. Wie oben.

Honorius III. Erhält Gesandtschaft mit Versprechen von Hülfe für Jerusalem, nämlich den David, Bischof von Ani, Seitens der Königin von Avegnia. Sanctissimo Papae patri ac domino omnium Christianorum tenenti sedem B. Petri, Russutana humilis regina de Avegnia devota ancilla et filia sua etc., theilt mit, guod frater meus Rex Urgianorum mortuus est et regnum ejus remansit mihi. Epist. Lib. VIII, Ep. 432; Raynaldi z. Jahr 1224, n. 17. Diese regina ist nun Rusudan, Königin von Georgien 1223-47, Schwester und Nachfolgerin ihres Bruders Ghiorghi IV (1222-23) und Tochter der grossen Königin Thamar (1184-1212). Georgien als das alte Kolchis mit seinem Phasis genugsam ob der Reichthümer bekannt.

Hinsichtlich des Namens Avegnia kann man vielleicht an das einst so mächtige Reich der Mihranier in Aghovan denken, das nach 950 mit Georgia vereinigt wurde, oder aber an die Stadt Ani, die bei Porphyrogenitus stets „Aβνιχον“ heisst, und die unter georgischer Oberhoheit eigene Emirs hatte; letzteres scheint mir das Wahrscheinlichste.“ Georgien hatte unter David III., der Königin Thamar und Georg IV. seine Glanzperiode gehabt und mehr als anderen Sängern mochte es dem Thierri de Soissons, den Joinville als Begleiter Ludwig’s des Heiligen auf dessen Zügen ins Morgenland erwähnt, nahe liegen, des Beherrschers von Georgien oder Avegnien als einer Art Crösus zu gedenken. Das Königreich Georgien umfasste in jenen Zeiten das ganze Transcaucasien, also das eigentliche Georgien (im Althertume Iberia), Imiretien (Colchis), einen Theil von Armenien und Schirwan (im Alterthume Albania). Dass nun Albania mit dem Volk der Albani, dem Flusse Albanus, der Hauptstadt Albana und dem Mare Albanum (einem Theile des Caspischen Meeres) den durch die Lingua franca modern romanisirten Namen Avegnia (statt Alvegnia) geliefert habe, erscheint mir unzweifelhaft, wenn auch der Ausfall des l vor einer Labialen etwas Ungewöhnliches hat. Sobald es vergönnt sein wird, Specialwerke über die Geschichte Georgiens (namentlich Brosset’s aus dem Georgischen überfesste Chronique Géorgienne, Paris 1831) und ein Wörterbuch der georgischen Sprache zu consultiren, werden sich hoffentlich weiter Bestätigungen und Ausschüsse finden.

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